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Dr. Frank Brand
Evolutionäre Algorithmen in der Praxis

Vortragender:

Dr. Frank Brand Visual Analysis GmbH
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Evolutionäre Algorithmen in der Praxis

  • Das Problem Naturwissenschaftler und Ingenieure haben in der täglichen Praxis häufig mit Optimierungsproblemen zu tun, für die keine analytischen Beschreibungen bekannt sind und/oder bei denen die Anzahl der gleichzeitig zu optimierenden Variablen sehr groß ist bzw. die inhaltlichen Zusammenhänge hochgradig nichtlinear sind. Beispiele dafür finden sich in so unterschiedlichen Gebieten wie der Konstruktion von Düsentriebwerken, der Automobilindustrie und der Teilchenphysik. In der Bionik - ein Kunstwort aus Biologie und Technik - werden die in der Natur vorgefundenen Lösungen, Strukturen und Prinzipien daraufhin untersucht, ob sie Optimallösungen darstellen und inwieweit sie sich für neue Konzepte bei der Optimierung technischer Probleme verwenden lassen.

  • Beispiele in der Natur
    Daß in der Natur Optimallösungen existieren, wird nahegelegt z.B. durch sogenannte Allometriegesetze für Wirbeltiere. Weitere Beispiele sind die optimale Verzweigungsstruktur des Blutgefäßsystems u.a. des Menschen, der Girlandenflug der Vögel und die Optimalstruktur des Komplexauges von Insekten. Man kann bei sehr vielen der angeführten Beispiele analytisch mittels Methoden der Differentialrechnung nachweisen, daß es sich tatsächlich um optimale Lösungen in der Natur handelt. Unter den neueren Verfahren, die bei den oben angeführten Optimierungsproblemen in Frage kommen, nehmen solche, die die biologische Evolution nachempfinden, deshalb eine besondere Stellung ein, weil mit ihnen auch hochkomplexe industrielle Probleme bearbeitbar sind.

  • Das Prinzip der Evolutionsstrategie
    Die Evolutionsstrategie, vor nunmehr dreißig Jahren als Optimierungsverfahren von Prof. Dr. Ingo Rechenberg eingeführt, stellt ein universelles Verfahren zur Lösung und Optimierung technischer Probleme dar. Es wird sehr stark unterschieden zwischen den Inhalten der Begriffe Evolutionsstrategie und Evolutionstechnik. Unter dem ersten Begriff werden in Abgrenzung zu den Genetischen Algorithmen die Optimierungsverfahren bzw. Strategievarianten subsumiert, die sich an das Geschehen der natürlichen Evolution anlehnen. Es hat sich in der letzten Zeit durchgesetzt, Evolutionsstrategien, Genetische Algorithmen und Genetische Programmierung zusammenfassend als Evolutionäre Algorithmen zu bezeichnen.

  • Evolutionstechnik
    Hingegen versteht man unter Evolutionstechnik die Methoden und Heuristiken der Problemaufbereitung im Sinne einer problemrelevanten Formulierung der für jedes Optimierungsverfahren notwendigen Qualitätsfunktion. Zudem müssen insbesondere bei industriellen Fragestellungen in der Regel neben dem eigentlichen Optimierungsproblem noch Nebenbedingungen und die Einhaltung von Fertigungstoleranzen berücksichtigt werden.

  • Umsetzung
    Wie lassen sich also die Prinzipien, die der Optimierung im Rahmen der biologischen Evolution zugrunde liegen, für die Suche nach Optimallösungen beim Design technischer Systeme nutzbar machen? Verwendet werden neu entwickelte Algorithmen, die neben anderen die Mechanismen der Evolution wie Mutation, Selektion und Rekombination nachahmen. Zudem müssen problemangepaßte Qualitätsfunktionen abgeleitet werden, die die Berücksichtigung von Nebenbedingungen und Toleranzen erlauben. Die Berücksichtigung von Nebenbedingungen in Form von speziell konstruierten Straffunktionsanteilen der Qualitätsfunktion für die Optimierung mittels Evolutionsstrategien ist ein wesentlicher Meilenstein. Mit diesem Zugang ist es im hochdimensionalen Variablenraum oft erst möglich, überhaupt eine gültige Startlösung zu generieren.

  • Probleme der Modellierung
    Dabei kann der Modellierungsaufwand, der geleistet werden muß, um ein Problem überhaupt einer Optimierung zugänglich zu machen, zum Teil ganz erheblich sein. Im Kontext der Evolutionsstrategie spricht man davon, durch eine geeignete Modellierung des Problems eine Qualitätsfunktion anzugeben bzw. genauer zu "konstruieren", so daß die starke Kausalität erfüllt ist. Solche Qualitätsfunktionen sind gekennzeichnet durch kleine Änderung bei kleinen Änderungen der Variablen. Das zu optimierende Problem wird in der Regel durch die das Problem beschreibenden (physikalischen) Gesetze und die zugehörigen Rand- und Nebenbedingungen charakterisiert. Im allgemeinen ist das zu betrachtende Problem nicht ohne weitere Bearbeitung der Optimierung zugänglich. Erst nach einer geeigneten Modellierung, die fast immer auch mit einer Vereinfachung und Umformulierung der ursprünglichen Optimierungsaufgabe einher geht, ist eine Optimierung mittels eines ausgewählten Verfahrens möglich. Die Evolutionsstrategie stellt als adaptives stochastisches Suchverfahren eine von vielen Methoden dar, Optimierungsprobleme zu bearbeiten bzw. zu lösen. Warum nimmt sie nun eine besondere Stellung ein unter der Vielfalt der Optimierungsmethoden? Sie läßt sich einmal sowohl als mathematisches Optimierungsverfahren verwenden als auch im Labor zur experimentellen Einstellung optimaler Variableneinstellungen verwenden.

  • Ausblick
    Die herausragende Stellung dieses Optimierungsverfahrens liegt darin begründet, daß die dabei benutzen Prinzipien wie z. B. Mutation, Rekombination und Selektion seit Millionen von Jahren im Rahmen der biologischen Evolution Anwendung finden zur optimalen Anpassung von Strukturen, Prozessen und Wechselwirkungen in der belebten und unbelebten Natur. Seit Darwin (1809-1882) zum ersten Mal die der natürlichen Evolution zugrundeliegenden Mechanismen beschrieben hat, ist die Evolutionstheorie zu einem der besten Erklärungsmodelle gereift, wenn es um das Verständnis für die Vielfalt der Erscheinungen in der Natur geht. Zudem ist von entscheidender Bedeutung, daß die Auswertung und Bewertung der aus einer Grundstruktur abgeleiteten Realisierungen parallel durchgeführt werden können. Gerade in der industriellen Anwendung ist die dadurch mögliche Zeitersparnis bei der Optimierung nicht hoch genug zu bewerten, besonders angesichts der immer kürzeren Produktlebenszyklen.
    Letzte Änderung: 08.01.01 von Norbert Kalus